Schon 1926 konnte die MFO und ihre Belegschaft vor der Güterzugslokomotive Ce 6/8 III, Krokodil, die Auslieferung der 100. Lokomotive feiern.
Verkehrshaus der Schweiz

Strom ist nicht gleich Strom

Die Elektrifizierung der SBB war Anfang des 20. Jahrhunderts für die junge Strombranche immens wichtig. Welche Art von Energie dafür verwendet werden sollte, sorgte allerdings für Spannungen.

Kilian Elsasser

Kilian Elsasser

Kilian T. Elsasser ist Historiker und leitet die Museumsfabrik, welche kulturelle Häuser berät.

Mit der Elektrifizierung von Wirtschaft und Haushalten wurde auch in der Schweiz die zweite industrielle Revolution eingeläutet. Die neue Energieform bestach durch eine zentrale Produktion und eine dezentrale Nutzung. Glühbirnen machten die Nacht zum Tag, Elektromotoren trieben Maschinen und Eisenbahnen an. Ganz ohne stinkende Rauch- und Dampfwolken. Bis 1900 baute die junge und innovative Elektroindustrie vor allem Kraftwerke und elektrifizierte einige Eisenbahnlinien. Alles gut? Nicht ganz! Was den Stromproduzenten fehlte, waren grosse Energieverbraucher. Aus diesem Grund beschloss die Branche 1902 ganz unbescheiden, die im selben Jahr gegründeten SBB zu elektrifizieren.

Bevor dieses «Monsterprojekt» in Angriff genommen werden konnte, musste jedoch noch ein interner Zwist geklärt werden: Einphasenwechselstrom oder Drehstrom? Die Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) betrieb ab 1905 die Strecke Zürich Seebach-Wettingen mit Einphasenwechselstrom, während die Brown Boveri & Cie. (BBC) ab 1906 den Simplontunnel mit Drehstrom versorgte. Die Spannungen zwischen MFO und BBC spielten den Bundesbahnen in die Hände, denn die nationale Bahngesellschaft war einerseits mit dem Aufbau einer nationalen Infrastruktur ausgelastet und deshalb nicht unbedingt an einer schnellen Umsetzung interessiert. Andererseits konnten sie so bequem abwarten, welches der Stromsysteme sich durchsetzen würde.

Auf der Versuchsstrecke Zürich Seebach-Wettingen testete die MFO mit der Lokomotive Ce 4/4 II den elektrischen Betrieb mit Einphasenwechselstrom.
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Entscheidung am Gotthard

Die Jahre vergingen, das Schienennetz wuchs, doch die Stromfrage blieb ungeklärt. Erst 1912 kam Bewegung in die Sache. Die Schweizerische Studienkommission für elektrischen Bahnbetrieb schlug den heute noch verwendeten Einphasenwechselstrom vor. Bereits ein Jahr später nahm die BLS den Betrieb damit auf. Die Frage der Elektrizitätsart im schweizerischen Bahnverkehr schien geklärt. Schien, denn mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sistierten die SBB die Planungsarbeiten.

Die Pause kam für Walter Boveri (1865-1924), Mitbegründer der BBC und Verwaltungsrat der SBB, wie gerufen. Er nutzte die Zeit und erwirkte, dass die SBB 1916 am Gotthard einen Versuch mit Gleichstrom planten, denn Drehstrom hatte sich nicht bewährt. Dies lockte die Einphasenwechselstrom-Fraktion aus der Reserve. Sie stellte nun nicht mehr nur den Preis und die Effizienzsteigerung des elektrischen Betriebs ins Zentrum ihrer Argumentation, sondern auch den sicheren Betrieb mit einheimischer Energie und die verbesserte nationale Wertschöpfung. Damit traf sie ins Schwarze, denn die mangelnde und teure Kohle hatte der Schweiz die Abhängigkeit vom Ausland drastisch vor Augen geführt. Von 1914 bis 1920 verzehnfachte sich beispielsweise der Kohlepreis.

Allen war klar, dass der Entscheid am Gotthard für das ganze Bahnnetz richtungsweisend sein würde, deshalb war eine einvernehmliche Einigung nicht zu erwarten. Und diese Erwartung bestätigte sich 1916.

Die BLS-Lokomotive Be 5/7 von 1913 konnte schwerere Züge bedeutend schneller über den Lötschberg führen als Dampflokomotiven der SBB Züge am Gotthard.
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Am 18. Februar entschied sich der Verwaltungsrat der SBB, die Gotthardlinie mit Einphasenwechselstrom zu elektrifizieren. SBB-Verwaltungsrat Walter Boveri votierte dagegen und kämpfte weiter für Gleichstrom. In Juli 1916 schrieb er den Bundesbahnen, dass sie das falsche System wählen würden. Der Einphasenwechselstrom-Fraktion unterstellte er, dass sie gegen ein einheitliches schweizerisches Stromsystem sei.

Boveris Angriff sorgte zwar für rote Köpfe, blieb jedoch letztlich ohne Wirkung. Die SBB liessen sich nicht mehr umstimmen und nahmen ihre Arbeiten an der Elektrifizierung wieder auf. Am 12. Dezember 1920 fuhren elektrisch betriebene Züge von Erstfeld nach Biasca. Bereits zwei Jahre zuvor hatten die Bundesbahnen entschieden, ihr gesamtes Netz mit Einphasenwechselstrom auszurüsten. Dieser Entscheid war immens wichtig und das Fundament für die Entwicklung der Schweizer Strombranche. Schon 1936 waren über 70 Prozent des SBB-Netzes elektrifiziert. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Eisenbahn auch dank strombetriebenen Zügen zum Mythos einer unabhängigen Schweiz, die Schweizerinnen und Schweizer miteinander verband.

Kilian T. Elsasser hat ein Buch über die Elektrifizierung der Schweizer Eisenbahn geschrieben. «Bahnen unter Strom» ist 2019 im Stämpfli Verlag erschienen.

Walter Boveri, Mitbegründer der BBC.
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