
Schicksalsgöttin mit Falten
Wer malt denn schon alte Frauen? Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt, dass die Maler sich mit dem Sujet schwertaten. Meist widmeten sie sich ihm nur unter einem Vorwand.
Die entsprechenden Konventionen und Tabus wirkten bis weit ins 20. Jahrhundert. Für eine würdevolle Darstellung von Greisen stand den Malern ein Arsenal positiv besetzter Rollen zur Verfügung. Heilige, Philosophen und Gelehrte, ja Gottvater selbst: Solche Rollen gab es für Frauen nicht. Ihre Darstellung hatte dementsprechend keine Funktion.
Die wenigen Ausnahmen haben jedoch zur allmählichen Enttabuisierung des Problem-Sujets beigetragen. Insbesondere im 19. Jahrhundert mehren sich die Beispiele. Sie finden sich etwa im Werk von Albert Anker. So hat er 1885 gleich zwei Versionen seins Gemäldes «Hohes Alter (Frau, sich wärmend)» gemalt. Im Gegensatz zu Zeuxis hat sich Anker dabei nicht totgelacht. In seinem bildnerischen Kosmos sind die alten Frauen auch gar nichts Besonderes. Er stellt sie in der detailreichen Manier in der Tradition der niederländischen Genremalerei dar, die auch im 19. Jahrhundert bei seinem bürgerlichen Publikum gut ankam.
Dass die Maler solche Vorwände brauchten, um alte Frauen darzustellen, belegt schon ein bald 400 Jahre früher entstandenes, heute berühmtes Porträt einer alten Frau von Giorgione (Giorgio da Castelfranco, 1478-1510). Giorgione, ein wichtiger Vertreter der venezianischen Renaissancekunst, malte 1506 «La Vecchia». Von Giorgione sind nur wenige Gemälde überliefert, da er sehr jung an der Pest starb. Zu seinen Sujets gehören neben Madonnen und Darstellungen ländlicher Idyllen mit reizvollen jungen Frauen vor allem männliche Porträts. Auch Giorgione orientierte sich damit an seinen Auftraggebern.
Für Giorgione ist sie aus einem anderen Grund zweitrangig. Denn seine «Vecchia» tritt in einer klar definierten Rolle auf: Sie ist eine Allegorie, eine Verkörperung der Vergänglichkeit. Dafür spricht das Spruchband mit der Aufschrift «col tempo» in der Hand der Frau und der auf ihre Brust gerichtete Finger. «Mit der Zeit» werden auch wir, die wir das Bild betrachten, uns den Zumutungen des Alters nicht entziehen können. Darüber hinaus enthält das Gemälde einen versteckten Hinweis auf die herrschenden Sachzwänge für Künstler: Die wohlhabenden Auftraggeber bevorzugen jugendliche Madonnen und schmeichelhafte Porträts. Abgewirtschaftete alte Frauen kann Giorgione nur unter dem Vorwand der Allegorie malen, und nur in einem ganz speziellen Kontext. Die «Vecchia» diente ursprünglich als Schutzdeckel für das Porträt eines (jüngeren) Mannes.
Die französische Feministin Simone de Beauvoir hat 1970 in ihrer bahnbrechenden Analyse «La Vieillesse» herausgearbeitet, wie die Literatur seit der Antike den körperlichen Verfall des Menschen im Allgemeinen, insbesondere aber den von Frauen thematisiert: zumeist satirisch. Auch dies erklärt, warum für die Maler alte Frauen kein würdevoller Gegenstand waren: Die Gesellschaft sah das schlicht nicht vor. Erst zu Zeiten von Giorgione ändert sich dies allmählich.
Auf einzigartige Weise sichtbar wird das im Schaffen Albrecht Dürers. Dürer zeichnet 1514, wenige Jahre nach Giorgiones «Vecchia», seine Mutter Barbara Holper. Sie ist damals 63 Jahre alt, ausgezehrt von 18 Geburten und schwer krank. Zwei Monate später lebt sie nicht mehr.
Aber selbst Bellottis Lebenslandkarte eines alten Gesichts dient nicht der Auseinandersetzung mit einem individuellen Charakter. Auch bei ihm muss die alte Frau in ein bekanntes Kostüm schlüpfen, um darstellbar zu sein: Als Parze Lachesis verkörpert sie eine der drei antiken Schicksalsgöttinnen, ein damals beliebtes Sujet. Auf den Namen Lachesis weist der (kaum noch lesbare) Text auf dem Zettel oben links hin. Für Parzenspezialisten ist Lachesis sofort erkennbar am Faden, den die Frau zwischen den Fingern hält: Lachesis bemisst die Länge des Lebensfadens. Zugleich scheint sich Bellotti über die Parzenkenner und damit das pseudogelehrte mythologische Theater seiner Zeit als Vorgabe für Künstler lustig zu machen. Denn üblicherweise werden sogar die Schicksalsgöttinnen als nackte junge Frauen dargestellt.
Es ist kein Zufall, dass das ungeliebte Sujet der alten oder gealterten, in den Augen der Gesellschaft in der traditionellen Rolle als Gebärerin unbrauchbaren Frau ab dem 20. Jahrhundert gerade auch von Künstlerinnen aufgegriffen wird. Oft geschieht dies in zugespitzter Weise, um die entsprechenden Tabus herauszuschälen. Wie aktuelle Beispiele etwa von Maria Lassnig oder Cindy Sherman belegen, geht es dabei häufig um eine Kritik am Schönheits- und Jugendlichkeitskult. Denn auch die heute dominante konsumorientierte Selfie- und Werbekultur bleibt fixiert auf makellose junge Frauen. Dies ändert sich nur in dem Masse, wie ältere Frauen ins Visier des Marketings geraten und das Bewusstsein für den sogenannten «ageism», die Diskriminierung Älterer, wächst.


