Sempach 1940 – Souvenir des internés français
General Guisan ruft im Krisenjahr 1940 auf dem Schlachtfeld zum Widerstand auf. Derweil wollen französische Internierte die Marseillaise singen. Für deren Fürsorge sind einmal mehr die Frauen zuständig. «Allons les femmes de la patrie.»
«Der heute beginnende Kampf entscheidet das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten tausend Jahre», verkündet Hitler am 10. Mai 1940 und erteilt der Wehrmacht den Befehl zum Westfeldzug. Ein «Blitzkrieg». Nach nur fünf Wochen marschieren die deutschen Truppen in Paris ein. Am 25. Juni unterzeichnet Frankreich den Waffenstillstand.
1000 Einwohner, 900 Internierte
Drei Tage nach ihrem Grenzübertritt treffen 260 französische Internierte in Sempach ein. In anderthalb Wochen erhöht sich ihre Zahl auf 900. Die Luzerner Kleinstadt zählt damals bloss hundert Einwohner mehr. Die Hälfte der Internierten kann nur wenige Tage beherbergt werden. «Etwa 400–500 Mann sind inzwischen abgezogen», hält der Stadtrat am 6. Juli fest. Die anderen rund 500 Franzosen sind wahrscheinlich mit dabei, als am 8. Juli oberhalb des Städtchens Schlachtjahrzeit gehalten wird.
Vertrackte Geschichte(n) à la Française
Ein Offizier der Wehrmacht notiert im Juni 1940 in sein Tagebuch: «Wir wohnen bei zwei alten Französinnen. Sie erleben die dritte Invasion.» Drei Eroberungen innert 70 Jahren. 1870, 1914, 1940. Bereits 1871 treten als Folge des deutsch-französischen Kriegs 87‘000 Mann der Bourbaki-Armee über die Schweizer Grenze. Jetzt, 1940, bei der dritten Invasion, sind es gut 42‘000 Mann. Beide Male suchen Teile der französischen Armee Schutz in der Schweiz, in grösster Not. Sie werden entwaffnet, neutralisiert, einquartiert, umsorgt.
1798, in der Helvetik, standen die Vorzeichen anders. Frankreichs Heere drangen mit Waffengewalt in die Schweiz ein. Sie brachten unserem Land die Errungenschaften der Revolution: Freiheit und Gleichheit, Verfassung und Menschenrechte. Unschätzbar – doch mit Bajonetten aufgezwungen, von 35‘000 Mann in Bern, von 17‘000 Mann in Nidwalden?
Wie viel von dieser vertrackten eigenen Geschichte ist den französischen Internierten bewusst, als sie 1940 in Sempach einquartiert werden? Und was wissen sie von der Schlacht bei Sempach, als sie wenige Tage nach der verlorenen Schlacht um Frankreich mit dabei sind, als Guisan nach der Gedenkfeier unten im Städtchen einzieht und offiziell empfangen wird? Die versammelte Schuljugend winkt ihm mit Schweizer Fähnchen zu – und Hunderte von französischen Soldaten und Offizieren stehen dem General der Schweizer Armee Spalier.
Vertrackte Geschichte(n) à la Suisse
Für Guisans Ansprache gilt: Lage ist Auftrag. Während des ganzen Westfeldzugs, sechs Wochen lang, bleibt der Bundesrat stumm. Dann endlich meldet sich Pilet-Golaz am Radio: «Die Ereignisse marschieren schnell. Man muss sich ihrem Rhythmus anpassen.» Wie ist das 1940 zu verstehen, «anpassen»? Eine Rede, die mehr verwischt als klärt. Auf dem Schlachtfeld von Sempach gibt Guisan nun Gegensteuer, schwört das Schweizer Volk auf Widerstand ein.
Widerstand? Warum denn hat Guisan zwei Tage zuvor, am 6. Juli, von den 450‘000 Soldaten der Schweizer Armee 300‘000 entlassen? Teildemobilmachung ausgerechnet in höchster Gefahr? Eine Demutsgeste gegenüber Deutschland, zeitlich begrenzt? Am 25. Juli 1940 macht Guisan auf dem Rütli alles klar: Réduit, Widerstand um jeden Preis, selbst wenn das Mittelland Hitlers Truppen überlassen werden müsste.
Eine zweite und eine erste Nationalhymne
Die zweite vorweg, das Sempacherlied: «Lasst hören aus alter Zeit». Ein angeblich «heilig Lied», der Text weniger. «Zum Kampfplatz», heisst es da, «wo man in Schlachtwuth dumpf brüllend sich wälzt im Herzblut». Zugleich wird die habsburgische «Mordschaar» verhöhnt. Ein Kampflied von 1836, das im Lauf des 19. Jahrhunderts so etwas wie die zweite Schweizer Nationalhymne wird.
Um kein Haar heiliger ist die Marseillaise, unbestritten die erste Nationalhymne Frankreichs. Die französischen Internierten lassen fragen, ob sie am 8. Juli 1940 auf dem Schlachtfeld von Sempach ihre Hymne singen dürfen. Die Antwort der Behörde hat sich nicht erhalten, ist aber leicht auszumachen: wohl kaum. Just nach dem Fall Frankreichs zu gestatten, in offiziellem Rahmen die französische Nationalhymne zu singen, dazu noch von französischen Internierten, wäre von den neuen Herren Europas als Beihilfe zu einem Signal für ungebrochenen Widerstand gedeutet worden – mit unabsehbaren Folgen. Drei Monate später singen die Franzosen in Sempach dennoch, allerdings in einem anderen Kontext.
Ich bin ein Schweizer Knabe
Trotz Krieg wird den Internierten an der Schlachtjahrzeit etwas geboten: Konzert, Unterhaltung, Tanz. Der Eintritt für Einheimische, 50 Rappen, kommt den Soldaten aus Frankreich zugute. Im Herbst 1940 tritt dann in der alten Sempacher Festhalle ein französisches Spitzenensemble professioneller Schauspieler und Musiker auf. Vor der Internierung haben sie die Truppen an der Front unterhalten, jetzt sind internierte Kollegen in mehreren Luzerner Gemeinden an der Reihe, in Hergiswil, Buttisholz, Willisau, Sempach. Die Kostüme stellt das Stadttheater Luzern zur Verfügung, kostenlos.
«Der hiesige Festhallensaal war am letzten Donnerstagabend vollgepfropft von Internierten u. Zivilbevölkerung», ist in der Sempacher Zeitung vom 14. September 1940 nachzulesen. «Die Internierten-Theatergruppe ‹D’Artagnan› trat, wie in letzter Nummer vorausgemeldet, mit einer vielseitigen Revue von 7 Bildern vor die Öffentlichkeit.
Der Theaterleiter, Marius Clémenceau vom Théâtre Antoine de Paris, hat ganz besonders gut gefallen in seinen Rollen und verdient auch an dieser Stelle Dank und Anerkennung für das ganze Arrangement. Sein Schlusslied, ‹Ich bin ein Schweizer Knabe›, angetan in Hirtenhemd und kurzer Hose, hat ihm zwar mit seinen ‹k› und ‹ch› fast den Husten aufdiktiert, doch zeigte er auch hier wiederum den nie verlegenen Berufs-Künstler und alles ging unter brausendem Applaus zu gutem Ende.»
Militärgerichtliche Ahndung gemäss Art. 107
Vom «brausenden Applaus» lässt sich das «Kommando des hiesigen Bewachungsdetachements» allerdings nicht beeindrucken. Unter Androhung militärgerichtlicher Verfolgung wird verboten, «mit Internierten nähern Kontakt anzustreben oder Lokale der Internierten zu besuchen». Untersagt ist zudem, «den Internierten alkoholische Getränke zu verabfolgen, sei es gratis oder gegen Bezahlung» und namentlich «Internierte ohne Bewilligung zu besuchen; dies gilt besonders für Frauenspersonen», wie der Bevölkerung in der Sempacher Zeitung vom 27. Juli 1940 bekannt gegeben wird.
Allons les femmes de la patrie!
Von einem «jour de gloire» ist bei den Frauen von Sempach nicht die Rede. Sie erkennen ganz einfach, was zu tun ist. «Diesen armen, geflüchteten, vom Krieg furchtbar heimgesuchten Menschen fehlt so vieles zum Leben Notwendige. Für die Verpflegung ist wohl gesorgt, aber wer nimmt sich ihrer in Bezug auf die Wäsche an?» fragen die Frauen im Protokoll. Die Liste der Effekten, die von den Internierten benötigt werden, ist lang: 230 Unterhosen, 120 Paar Socken, 50 Hemden, 200 Paar Schuhbändel, 140 Waschtücher, 65 Nastücher, 70 Wolldecken, 130 Pullover und vieles mehr.
Auch Frauen sind vereint stärker, also schliessen sie sich zusammen: Samariterverein, Marienverein, Frauenbund, Mandolinenklub und Trachtengruppe. «Eine Sammlung von Haus zu Haus hätte den besten Erfolg», ist man sich einig. «Auch Holz wäre willkommen. Wer nichts an Naturalien zu geben hat, unterstützt die Sammlung vielleicht durch eine Geldspende.»
Die Organisation erfolgt generalstabsmässig: je eine Kleingruppe von Frauen übernimmt ein Quartier oder einen Strassenzug. Wenigstens einige sollen hier stellvertretend für alle Helferinnen genannt werden: Frau Posthalter Lieb und Frl. Josy Brandenberg: Felsenegg, Rosenegg und Seesatz / Frls. Martha Schüpfer und Nina Steger: Rainhöfli bis und mit Schürmann, Honrich / Frls. Anna Schifferli und Marie Weber: untere Reihe der Stadtstrasse bis Meierhöfli – und so weiter.
Die Frauen sammeln nicht nur, sie bringen die Kleider der Internierten auch wieder in Ordnung. Darüber führen sie Buch, wie sich das für rechte Frauen gehört. Gewaschen werden 919 Kleidungsstücke, geflickt 1066 – voilà!
Was bleibt
Ein gewisser Paul B., sein Familienname lässt sich nicht mehr entziffern, vielleicht Unteroffizier, ist als Internierter vermutlich während sieben Monaten, von Ende Juni 1940 bis nach Neujahr, untergebracht im Haus der Lehrerin Marie Helfenstein an der Stadtstrasse 24 in Sempach. Bleibt seine Feldflasche hier einfach liegen, oder überlässt er sie Marie Helfenstein als Andenken, beim Abschied am 24. Januar 1941?
Mit dem Einverständnis der Regierungen in Berlin und Vichy kehren die Franzosen nach Neujahr 1941 in ihr Heimatland zurück. Einer von ihnen, Jean, war in Sempach bei der Metzgerfamilie Zürcher untergebracht. – Rund 30 Jahre später besucht er auf einer Schweizer Reise Sempach und vernimmt, dass Zürchers jüngstes Kind, Walter, soeben heirate, seine Theres. Der ehemalige Internierte begibt sich nach Kirchbühl, durchbricht das Spalier der Gäste, umarmt den Bräutigam und strahlt: «Quel joli garçon!» Dieser weiss nicht, wie ihm geschieht – bis seine Mutter auftaucht und ruft: «Jeses, das isch jo de Jean!» Aus Heimatkunde wird Weltkunde.