Laokoon-Gruppe, Gipsabguss des frühen 19. Jahrhunderts nach dem antiken Marmororiginal im Vatikan.
Laokoon-Gruppe, Gipsabguss des frühen 19. Jahrhunderts nach dem antiken Marmororiginal im Vatikan. Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, Skulpturhalle

Der erschöpf­te Mann

Die antike Skulptur des Laokoon und seinen Söhnen bezeugt nicht nur einen Wendepunkt in der künstlerischen Darstellung des Mannes, das Werk ist auch Projektionsfläche für sich stetig wandelnde Ideale der Männlichkeit.

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner

Alexander Rechsteiner hat Anglistik und Politikwissenschaften studiert und leitet die Abteilung Marketing & Kommunikation des Landesmuseums.

Was für ein Skandal! Ausgerechnet auf dem Altar des Gottes Apollon hatte der Priester Laokoon mit seiner Frau geschlafen. Erzürnt über diesen Frevel schickt Apollon zwei Schlangen, die Laokoons Söhne töten sollen. Der Vater versucht seine Söhne vom Würgegriff der Schlangen zu befreien. Vergeblich, denn die Schlangen sind stärker und beissen Laokoon und seine Söhne zu Tode. Inspiriert von diesem Mythos verewigt ein unbekannter Künstler der griechischen Antike Laokoons Scheitern in einer Marmorskulptur. Im Detail zeigt er den schmerzverzerrten Körper und den leidenden Gesichtsausdruck des Vaters. Das Werk ist eine Revolution, denn bis dahin wurde der Mann stets als strahlender Held und Sieger dargestellt. In der Skulptur sieht man ihn zum ersten Mal in stöhnendem Schmerz, eingeholt von seiner eigenen Überheblichkeit. Neu ist die Darstellung des Mannes im Moment der Erschöpfung. Im Lauf der Geschichte haben Männer zahlreiche heroische Ideale für sich geschaffen: Strahlende Sieger, selbstherrliche Schöpfer, Abbilder Gottes. Doch jedes Ideal entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Überforderung, an der der Mann schliesslich zerbricht. So auch bei Laokoon. Rund 1500 Jahre nach ihrer Entstehung wurde die Marmorskulptur 1506 in Rom entdeckt. Der Fund war eine Sensation, denn aus der Literatur wusste man von diesem aussergewöhnlichen Werk. Nun stand sie wahrhaftig da, zwar fehlte dort ein Arm, da ein Schlangenkopf, doch der Schmerz des Laokoon kam trotz diesen Lücken voll zur Geltung. Über die Jahrhunderte war die Skulptur immer wieder Projektionsfläche für die sich stetig wandelnden Männerbilder. An Laokoon zeigt sich, wie flexibel diese Bilder zuweilen sind. Die Leerstellen, zum Beispiel der fehlende Arm Laokoons, wurden für zeitgenössische Interpretationen genutzt. Als wolle man dem Heroismus des Laokoon doch noch eine Chance geben, setzte man in der Spätrenaissance an die Leerstelle einen kraftvoll ausgestreckten Arm. Für den deutschen Schriftsteller Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) zeigte sich Laokoon sodann als wehrhaft und mitten im Kampf. Er kann die Niederlage zwar nicht mehr abwenden, doch er stellt sich ihr heroisch entgegen. 1903 wird der fehlende Arm Laokoons entdeckt. Es zeigt sich, dass dieser nicht ausgestreckt, sondern angewinkelt und in sich verdreht ist. Laokoon entgleitet so die Kontrolle über das Geschehen, doch noch immer erduldet er sein Schicksal mit einer gewissen Haltung.
Renaissance-Version mit ausgestrecktem Arm.
Version nach Entdeckung des Armes 1903.
Renaissance-Version mit ausgestrecktem Arm (links), Version nach Entdeckung des Armes 1903 (rechts) Wikimedia / Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, Skulpturhalle
Die Laokoon Skulptur inspirierte auch ein feministisches Ausrufezeichen. 1968 malte die österreichische Künstlerin Maria Lassnig (1919-2014) ein Selbstporträt mit dem Titel «Frau Laokoon». Das Stöhnen Laokoons kehrte die Malerin um, indem sie die Schlange als Phallussymbol deutete und ihren Kampf zu einem erotischen Akt macht. Die Frau im Bild kämpft mit dem Tier, das zur Strafe des Mannes losgeschickt wurde. Die Künstlerin schuf so eine feministische Ikone mit allen Konsequenzen. Zurück zur antiken Skulptur: Der vorläufig letzte Akt der Rezeptionsgeschichte entzog dem sündigen Priester auch noch den letzten verbliebenen Handlungsspielraum. Basierend auf neusten Forschungen verlegten die Berliner Archäologin Susanne Muth und ihr Kollege Luca Giuliani 2016 den Schlangenkopf von Laokoons linker Hüfte, wo ihn die Renaissance platziert hatte, an dessen Hals. Laokoon ist so definitiv kein Held mehr, sondern Opfer der Naturgewalt. Sein muskulöser Körper nützt ihm nichts, der Biss der Schlange haucht dem Mann im nächsten Moment die Lebensgeister aus. Er ist wieder der Verlierer, der in der antiken Originalversion war.
Vorschlag einer digitalen Rekonstruktion der Laokoongruppe.
Vorschlag einer digitalen Rekonstruktion der Laokoongruppe. © S. Muth / D. Mariaschk (2016), S.Muth (Hg.), Laokoon. Auf der Suche nach einem Meisterwerk (2017) 341 Abb. 11

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