
Der erschöpfte Mann
Die antike Skulptur des Laokoon und seinen Söhnen bezeugt nicht nur einen Wendepunkt in der künstlerischen Darstellung des Mannes, das Werk ist auch Projektionsfläche für sich stetig wandelnde Ideale der Männlichkeit.
Im Lauf der Geschichte haben Männer zahlreiche heroische Ideale für sich geschaffen: Strahlende Sieger, selbstherrliche Schöpfer, Abbilder Gottes. Doch jedes Ideal entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Überforderung, an der der Mann schliesslich zerbricht. So auch bei Laokoon.
Rund 1500 Jahre nach ihrer Entstehung wurde die Marmorskulptur 1506 in Rom entdeckt. Der Fund war eine Sensation, denn aus der Literatur wusste man von diesem aussergewöhnlichen Werk. Nun stand sie wahrhaftig da, zwar fehlte dort ein Arm, da ein Schlangenkopf, doch der Schmerz des Laokoon kam trotz diesen Lücken voll zur Geltung. Über die Jahrhunderte war die Skulptur immer wieder Projektionsfläche für die sich stetig wandelnden Männerbilder. An Laokoon zeigt sich, wie flexibel diese Bilder zuweilen sind. Die Leerstellen, zum Beispiel der fehlende Arm Laokoons, wurden für zeitgenössische Interpretationen genutzt. Als wolle man dem Heroismus des Laokoon doch noch eine Chance geben, setzte man in der Spätrenaissance an die Leerstelle einen kraftvoll ausgestreckten Arm. Für den deutschen Schriftsteller Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) zeigte sich Laokoon sodann als wehrhaft und mitten im Kampf. Er kann die Niederlage zwar nicht mehr abwenden, doch er stellt sich ihr heroisch entgegen. 1903 wird der fehlende Arm Laokoons entdeckt. Es zeigt sich, dass dieser nicht ausgestreckt, sondern angewinkelt und in sich verdreht ist. Laokoon entgleitet so die Kontrolle über das Geschehen, doch noch immer erduldet er sein Schicksal mit einer gewissen Haltung.
 
 
Zurück zur antiken Skulptur: Der vorläufig letzte Akt der Rezeptionsgeschichte entzog dem sündigen Priester auch noch den letzten verbliebenen Handlungsspielraum. Basierend auf neusten Forschungen verlegten die Berliner Archäologin Susanne Muth und ihr Kollege Luca Giuliani 2016 den Schlangenkopf von Laokoons linker Hüfte, wo ihn die Renaissance platziert hatte, an dessen Hals. Laokoon ist so definitiv kein Held mehr, sondern Opfer der Naturgewalt. Sein muskulöser Körper nützt ihm nichts, der Biss der Schlange haucht dem Mann im nächsten Moment die Lebensgeister aus. Er ist wieder der Verlierer, der in der antiken Originalversion war.
 
 

