Die Weihnachtsliedgeschichte
Vor über 200 Jahren wurde «Stille Nacht, Heilige Nacht» zum ersten Mal gespielt. Dank seiner berührenden Botschaft und der eingängigen Melodie ist es eines der beliebtesten Weihnachtslieder weltweit.
Oberndorf, ein verschneites Dorf am Fusse der österreichischen Alpen nahe bei Salzburg: Es ist Heiligabend im Jahr 1818 und die Bewohnerinnen und Bewohner haben sich für die Weihnachtsmesse in der Kirche St. Nikola versammelt. Weil die Orgel der Kirche nicht bespielbar ist, haben der Hilfspfarrer und der Dorfschullehrer eigens ein Lied komponiert, das sich auf einer Gitarre begleiten lässt. Die Melodie des neuen Lieds erinnert an ein Wiegenlied, ebenso der Text, der das Jesuskind ruhig schlafend beschreibt. So hören die Kirchgänger zum ersten Mal die sanften Töne des zuvor noch nie gehörten Weihnachtslieds «Stille Nacht, heilige Nacht». Sie ahnen nicht, welchen Erfolg es in den nächsten zwei Jahrhunderten haben wird.
Doch die Anwesenden müssen begeistert gewesen sein. Innerhalb weniger Jahre verbreitete sich das Lied von Oberndorf nicht nur in Österreich, sondern in der ganzen Welt. 2011 wurde es von der UNESCO als immaterielles Kulturgut anerkannt. Ein Grund für den Erfolg ist einerseits die einfache Melodie, komponiert von Dorfschullehrer und Organist Franz Xaver Gruber (1787-1863). Im für Wiegenlieder typischen 6/8-Takt beruhigt sie die Zuhörer und verbreitet eine besinnliche Atmosphäre. Auch der Text, ursprünglich von Hilfspfarrer Joseph Mohr (1792-1848) als Gedicht geschrieben, ist eingängig und konfessionell neutral.
Die beiden Männer schufen ein Lied, das die Leute in einer schweren Zeit tröstet und Hoffnung bringt. 1818 sind die Auswirkungen des «Jahres ohne Sommer» in den Voralpen noch immer zu spüren. 1815 hatte ein Vulkanausbruch in Indonesien zu einer Klimaveränderung in Europa geführt, die Ernteausfälle zur Folge hatte. Dazu kamen Kriege, Plünderungen und die willkürliche Grenzziehung des Wiener Kongress, buchstäblich vor der Haustüre der Oberndorfer, die den Menschen schwer mitgespielt hatten. Mohr und Gruber fanden mit ihrem Lied den richtigen Ton, die Botschaft des Lieds war für jeden verständlich. Diese Botschaft kam nicht nur bei den an der Uraufführung anwesenden Kirchgängern an, sondern auch bei den Milliarden von Menschen, die das Lied in der Vergangenheit und auch heute noch in der Weihnachtsmesse oder vor dem Christbaum singen.
Weihnachtsfrieden 1914
Knapp 100 Jahre nachdem «Stille Nacht, Heilige Nacht» zum ersten Mal aufgeführt wurde, ereignete sich an Heiligabend 1914 in Flandern etwas ebenso Aussergewöhnliches wie Berührendes. Das Weihnachtslied aus Österreich spielte dabei eine wichtige Rolle. Der Erste Weltkrieg war in den Schützengräben um Ypern festgefahren, auf beiden Seiten sitzen die Männer im Schlamm, ihre toten Kameraden liegen im Niemandsland zwischen den Stellungen. Weihnachten scheint hier weit weg zu sein. Und doch springt in dieser sternenklaren Nacht unversehens der Weihnachtszauber auf die Kämpfenden über.
Wo der Weihnachtsfrieden genau seinen Anfang nahm ist unklar. Zeitzeugen berichten, dass Kerzen und Weihnachtsbäume bei den Schützengräben angezündet wurden. Die Kriegsparteien lagen in so geringem Abstand zueinander, dass sie miteinander sprechen konnten. So ergab sich ein spontaner Waffenstillstand. Deutsche und Engländer krochen aus ihren Gräben, reichten sich die Hand und sangen zusammen Weihnachtslieder. Neben deutschen und englischen Liedern klingt natürlich auch «Stille Nacht, Heilige Nacht» durch das in gespenstischer Ruhe liegende Schlachtfeld.
Auch wenn der Weihnachtsfriede bekanntlich nicht lange hielt, für ein paar Stunden erreichte Mohr und Grubers Weihnachtsbotschaft von 1818 die Menschen selbst im erbitterten Stellungskrieg. Und auch heute wird rund um den Globus «Stille Nacht, Heilige Nacht» in unzähligen Sprachen gesungen.