Schang Hutters Skulptur vor dem Landesmuseum in Zürich.
Schang Hutters Skulptur vor dem Landesmuseum in Zürich. Schweizerisches Nationalmuseum

Die lange Reise eines Mahnmals

Der 2021 verstorbene Schang Hutter hat 1996 ein Mahnmal gegen den Holocaust geschaffen. Seine Skulptur «Shoah» hat zwei Jahre später auf ihrer Reise durch die Schweiz aufgerüttelt, aber auch für heftige Kritik gesorgt.

Fabienne Meyer

Fabienne Meyer

Fabienne Meyer ist Historikerin und forscht an der Universität Freiburg in einem SNF-Projekt zu den Schweizer Opfern des Nationalsozialismus.

An rund 60 Orten in der Schweiz erinnern Denkmäler an den Holocaust. Gedenktafeln thematisieren die restriktive Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges, Strassennamen rufen die couragierten Fluchthelferinnen und Fluchthelfer ins Gedächtnis und Skulpturen gedenken der sechs Millionen Juden, die im Holocaust ermordet wurden. Auf jüdischen Friedhöfen oder bei Synagogen, an Grenzübergängen, ehemaligen Wohnhäusern oder Verstecken machen Denkmäler auf Geschichten, Gesichter und Namen aufmerksam. Es sind Wegmarken, an denen man zufällig vorbeikommt. Es sind Anti-Denkmäler, die keine heroische Glorifizierung und kein Symbol des Triumphes darstellen. Es sind Mahnmale, die unauffällig und geräuschlos in vielfältigen Formen und Farben den eindringlichen Appell «Nie wieder!» schreien.
Deportation von Juden in Marseille, 1943.
Deportation von Juden in Marseille, 1943. Wikimedia
Eines davon hat in den 1990er-Jahren in der Öffentlichkeit und in den Medien hohe Wellen geschlagen: Die Skulptur Shoah von Schang Hutter (1934-2021). Anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Helvetik und des 150-Jahr-Jubiläums des Bundesstaates wurde 1998 in Bern ein Skulpturenweg unter dem Motto «Frei sein – gleich sein – offen sein» eröffnet, der vom Grauholz bis zum Bundeshaus führte. Dem renommierten Bildhauer Schang Hutter wurde der Bundesplatz für seine Skulptur Shoah zugesprochen. Mit einer Seitenlänge von 1,56 Metern nimmt der Würfel aus rostendem Stahl Bezug auf die Breite von Bahngeleisen und damit auf die Deportationszüge in die Konzentrations- und Vernichtungslager des Holocaust. Oben im Kubus ist eine Kerbe eingelassen, in der eine dürre, menschliche Figur liegt. Eine Figur, wie sie in vielen von Hutters Skulpturen vorkommt: Verletzlich, gebrechlich, unvollständig und ängstlich. «Mein Klotz ist ein unmenschliches Gegengewicht zur Einengung des Menschen», sagte Hutter über seine Skulptur.
Schang Hutter mit seiner Shoah-Skulptur 1998 in Basel.
Schang Hutter mit seiner Shoah-Skulptur 1998 in Basel. Dukas / RDB
Hutter sah sich selbst als politischen Künstler, seine Kunst als politisches Engagement. Die Studienzeit im München der Nachkriegszeit hat ihn stark geprägt, er traf auf Kriegsversehrte und erfuhr von den Wunden in Körper und Seele, die der Krieg hinterlassen hatte. Erst die feingliedrigen, reduzierten Figuren Alberto Giacomettis konnten ihm nach einer Schaffenspause wieder zeigen, dass Ausdruck durch Modellierung und Bildhauerei trotz des Krieges noch möglich ist. Das in München Erfahrene, wie Menschen mit Menschen umgehen, wurde zu seinem Thema als Bildhauer: Der Versuch einer Darstellung dessen, was Menschen empfinden, wenn sie verachtet, gequält oder ermordet werden. Der Versuch, der Verletzlichkeit Raum zu geben.
Alberto Giacometti 1962 in Venedig.
Alberto Giacometti 1962 in Venedig. Wikimedia
Anstatt seine Skulptur Shoah auf dem ihm zugewiesenen Platz vor dem Nebeneingang des Bundeshauses zu installieren, stellte der Künstler diese direkt vor den Haupteingang des Regierungsgebäudes. Hutter selbst sagte, dass er die Figur dort haben wollte, «wo im Zweiten Weltkrieg die politischen Entscheidungen getroffen wurden, dorthin, wo entschieden wurde, dass Leute gar nicht in die Schweiz gelassen werden.» Obwohl Nationalratspräsident Ernst Leuenberger damals beschloss, dass die Skulptur während der März-Session stehen bleiben könne, wurde sie nur drei Tage später am frühen Morgen von Mitgliedern der damaligen Freiheits-Partei auf einen Kranwagen verladen, mit einem «Refusé-Kleber» versehen und vor dem Atelier des Künstlers in Derendingen abgeladen.
TV-Beitrag über die Shoah-Skulptur von Schang Hutter vor dem Bundeshaus. SRF
Wieder wenige Tage später wurde die Skulptur erneut auf eine Reise geschickt: nach Zürich auf den Paradeplatz – mit dem offiziellen Segen des Zürcher Stadtpräsidenten Josef Estermann, der auf eine kritische Diskussion über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs hoffte. Der Paradeplatz als Repräsentant des Geschäftsplatzes Schweiz war in Anbetracht der Diskussionen um nachrichtenlose Vermögen auch für Hutter ein geeigneter Platz für seine Skulptur. Zwei Monate später befand sich Shoah weiter auf einer Tournee durch die Schweiz, kam nach Basel, Aarau, Solothurn und Glarus.
TV-Beitrag über die Shoah-Skulptur auf dem Zürcher Paradeplatz 1998. SRF
Die Platzierung der Shoah-Skulptur auf der Mittelachse des Bundeshauses und ihre anschliessende Reise war eine politische Aktion, die ihre Wirkung nicht verfehlt hat, wie zahlreiche Kommentare und Beiträge in den damaligen Tageszeitungen zeigen: Während die einen auf eine kritische Diskussion hofften, empfanden andere den rostigen «Schrotthaufen» als Skandal auf Zürichs edelstem Platz. Exponenten der Freiheits-Partei versuchten, die Skulptur in ein Mahnmal gegen den Sozialismus umzudeuten und Passanten diente der Quader als Katalysator, um über Politik im allgemeinen und Zürich im speziellen zu diskutieren, über Arbeitslosigkeit, die «Idioten in Bern» oder das Angebot von Pralinés im Sprüngli. Die Skulptur löste Diskussionen über «die Überheblichkeit und Arroganz der Politik und der politisch instrumentalisierten Kunst» aus und deren Anmassung, stellvertretend für die Juden ein Mahnmal zu schaffen. «Die Leiche des KZ-Toten ist ein allzu simpler Fingerzeig in sentimental-populistische Richtung», fanden die einen, wieder andere bedeckten den Kubus mit Blumen. Und immer wieder wurde der Meinung Ausdruck gegeben, dass der richtige Platz der Skulptur weder in Bern noch in Zürich, «sondern in Bonn vor dem Bundestag» oder in Berlin und Wien sei, denn «in der Schweiz gab es keine Verbrechen gegen die Menschheit und keine Kriegsverbrechen».
Anlieferung der Shoah-Skulptur beim Landesmuseum Zürich.
Anlieferung der Shoah-Skulptur beim Landesmuseum Zürich. Schweizerisches Nationalmuseum
Schang Hutters Skulptur Shoah wurde zu einem viel diskutierten Denk- und Mahnmal. Die provokativen (Um-)Platzierungen und die vielen Standortwechsel führten immer wieder zu neuen Debatten und Reibereien. 2004 wurde Schang Hutter vom Zürcher Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber die Anerkennungsmedaille des Zürcher Stadtrates für besondere Verdienste überreicht, unter anderem auch, weil er «die Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wortwörtlich auf die Strasse getragen» hat. Bis vor kurzem war es ruhig um die Skulptur, die unscheinbar vor der Kantonsschule in Solothurn stand. Mit der Anne-Frank-Ausstellung hat der Kubus nun aber den Weg zunächst erneut nach Zürich und aktuell nach Schwyz gefunden, wo er temporär im Nationalmuseum steht, nachdem er ein knappes Vierteljahrhundert zuvor eine aufregende Reise durch die Schweiz und die Gemüter erlebt hat.

Anne Frank und die Schweiz

22.04.2024 29.09.2024 / Château de Prangins
Das Tagebuch der Anne Frank ist weltberühmt. Weniger bekannt ist, dass die globale Verbreitung grösstenteils aus der Schweiz erfolgte. Anne, ihre Schwester und ihre Mutter sind im Holocaust umgekommen. Otto Frank überlebte als einziger seiner Familie. Er kehrte nach dem Krieg zunächst nach Amsterdam zurück. In den 1950er-Jahren zog er zu seiner Schwester nach Basel. Von dort machte er es sich zur Aufgabe, die Aufzeichnungen seiner Tochter in die Welt zu tragen und ihre Botschaft für Menschlichkeit und Toleranz für die kommenden Generationen zu erhalten.

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