Markanter Bau als Wahrzeichen. Breisach am Rhein, Münsterberg.
Markanter Bau als Wahrzeichen. Breisach am Rhein, Münsterberg. Wikimedia / Wladyslaw Sojka

Breisach – Ein Brennpunkt europäi­scher Geschichte

Auf halbem Weg zwischen Freiburg und Colmar ragt der Münsterberg von Breisach weithin sichtbar aus der Rheinebene. Die vorteilhafte Lage der Stadt ist verbunden mit der wechselvollen Geschichte einer Kernregion Europas.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Wie wirken sich geografische Bedingungen auf historische Entwicklungen aus? Breisach eignet sich als Prüfstück. Die Erhebung, 200 Meter breit, 550 Meter lang, fast 40 Meter hoch, ist ein Überrest des längst erloschenen Vulkangebiets Kaiserstuhl, ein Unikum zwischen Basel und Karlsruhe. Die Oberstadt erweist sich noch im 17. Jahrhundert als fast uneinnehmbare Festung. Die Unterstadt kontrolliert als Brückenkopf den Rhein, eine der bedeutendsten Wasserstrassen Europas. Mehr Geografie geht kaum. Lassen wir vorerst 2000 Jahre Geschichte passieren.

Die Römer am Rhein

Rom ist ziemlich abgelegen. Vom Tiber nach Brisacum, wie Breisach lateinisch heisst, sind es knapp 700 römische Meilen, rund 1000 Kilometer, dazwischen die Alpen und andere Unwägbarkeiten. Im Sommer 369 ist Kaiser Valentinian auf Inspektionstour. Er kommt von AVGVSTA RAVRICA, Kaiseraugst, hat schon viel gesehen, staunt wohl doch, als er sich dem Militärlager auf dem heutigen Münsterberg nähert: ein vielarmiger Strom, weitläufige grüne Rheinauen, aus denen eine Erhebung aus dunkelgrauem Vulkangestein aufragt; oben, hinter einem Mauergürtel, das Hauptgebäude des Kastells mit einem imposanten Vorbau von Arkaden: leuchtendes Weiss zum Ziegelrot des Dachs.
So könnte das Hauptgebäude des römischen Militärlagers Breisach im 4. Jahrhundert n. Chr. ausgesehen haben
So könnte das Hauptgebäude des römischen Militärlagers Breisach im 4. Jahrhundert n. Chr. ausgesehen haben. Auf einem Teil der Fundamente steht seit dem 12. Jahrhundert das heutige Münster. Stadtarchiv Breisach / Provinzialrömisches Institut der Universität Freiburg
Macht mächtig Eindruck, dieses Kastell, ebenso, dass sich der Kaiser persönlich um die Grenzregion kümmert. Doch der Zenit ist überschritten. Die Römer haben den Limes im Lauf des 3. Jahrhunderts aufgegeben, sind wieder zurück am Rhein, wie schon 150 Jahre zuvor. Als die römischen Legionäre nun auf Anordnung Valentinians die Rheingrenze befestigen, ahnen sie nicht, dass sie bloss drei Jahrzehnte später vom Rhein abgezogen werden, zur Verteidigung von Rom. Neulateinisch Point of no return. Die Völkerwanderung verändert die Welt, gemeint Europa.

Zivili­sa­ti­ons­bruch. Mittel­al­ter­li­che Grubenhäuser

Ein Indiz für die Veränderung sind Ess- und Trinkgewohnheiten. Spuren in Tongefässen (Amphoren) deuten an, was die Römer in Breisach schätzen: Olivenöl kommt aus Spanien, ebenso eine beliebte Fischsauce, Wein aus Süditalien und Nordafrika. Die nachrückenden Alemannen wollen von all dem nichts wissen.
Alemannien als Teil des Reichs Karls des Grossen um 800
Alemannien als Teil des Reichs Karls des Grossen um 800. Breisach ist nicht mehr im Grenzgebiet, der Rhein nicht mehr Grenzgewässer, das Elsass alemannisch, was sich sprachlich bis in die Gegenwart auswirkt. Allerdings geht dieser Einfluss immer mehr zurück. In der Schweiz verläuft die Grenze zwischen Alemannien und Burgund damals noch entlang der Aare. Historischer Atlas der Schweiz / © Marco Zanoli, Verlag Hier und Jetzt
Nach dem Abzug der Römer existiert Breisach etwa 500 Jahre nicht mehr – in den schriftlichen Quellen. Mit solcher «Geschichtslosigkeit» ist die Siedlung auf dem Münsterberg nicht allein. Wie anderswo dokumentieren Bodenfunde anstelle von Urkunden auch in Breisach eine durchgehende Besiedlung, dazu einen massiven Zivilisationsbruch – im Zeitlupentempo. Die Grubenhäuser aus dem frühen 12. Jahrhundert, die sich auf dem Münsterberg nachweisen lassen, erzählen von einem kargen Leben.
Rekonstruktion eines mittelalterlichen Grubenhauses auf dem Münsterberg Breisach, nach 1100
Rekonstruktion eines mittelalterlichen Grubenhauses auf dem Münsterberg Breisach, nach 1100. Drei solche Grubenhäuser sind die frühesten bekannten Bauten Breisachs aus dem Mittelalter. Die komplette Gegenwelt zum Komfort römischer Städte: nichts mehr von fliessendem Wasser, von Bädern, Heizungen, Mosaikböden, Tempel- und Theaterbauten. Museum für Stadtgeschichte Breisach am Rhein
Mit der Zeit entwickelt sich Breisach zum zentralen Ort am Oberrhein, wird 1273 Freie Reichsstadt, mit Befestigungs-, Markt- und Münzrecht. Die Vorzugslage macht die Stadt begehrt. Bereits im Spätmittelalter wechselt die Herrschaft wiederholt: vom Bischof von Basel zu den Staufern und Zähringern und wieder zurück, schliesslich zu den Habsburgern.

Das Münster. Manifes­ta­ti­on christ­li­cher Herrschaft

Heilig ist das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nicht. Christlich genügt. Die pompöse offizielle Bezeichnung ist politisches Programm. Seit Karl dem Grossen um 800 und Otto I. im 10. Jahrhundert verfolgen die Herrscher des Deutschen Reichs das Ziel, das römische Reich zu erneuern (Renovatio imperii), universaler Herrschaftsanspruch inklusive. Besonders deutlich zeigt sich die christliche Prägung im Kirchenbau. Breisach hat wohl bereits in karolingischer Zeit eine Kirche. Der Grundstein zum heutigen Münster wird um 1185 gelegt. Als Bauplatz bietet sich das Fundament des ehemaligen römischen Militärlagers an. Baumaterial aus jener Zeit ist im 12. Jahrhundert noch vorhanden. Optimale Voraussetzungen. Dome, Münster, Kathedralen entstehen nicht über Nacht. Am Münster von Breisach wird rund dreihundert Jahre lang gearbeitet. Kirchenbau im Mittelalter als Generationenprojekt.
Kontinuität der Geschichte: das Münster von Breisach, erbaut auf den Grundmauern des römischen Militärlagers.
Kontinuität der Geschichte: das Münster von Breisach, erbaut auf den Grundmauern des römischen Militärlagers. Museum für Stadtgeschichte Breisach am Rhein / Führer durch die Dauerausstellung

Breisach, eine der stärksten Festungen Europas

Nach Abschluss des Münsterbaus um 1500 wird die Handels- und Gewerbestadt Breisach zu einer mächtigen Festung ausgebaut, bestückt mit 152 Kanonen. Der «Schlüssel zum Reich», wie Breisach mit seiner Besatzung von 3000 Soldaten damals genannt wird, ist als Bollwerk kaum zu überwinden. Im Dreissigjährigen Krieg bleibt eine monatelange Belagerung erfolglos. Erst das Aushungern führt zur Kapitulation. Einmal mehr wechselt danach die Herrschaft über die Stadt, geht von Habsburg an Frankreich über, 1648 besiegelt im Westfälischen Frieden.
Breisach als französische Festungsstadt auf deutschem Boden, vor 1700 (Modell).
Breisach als französische Festungsstadt auf deutschem Boden, vor 1700 (Modell). Eine gigantische, bis ins Letzte ausgeklügelte Wehranlage macht die Oberstadt auf dem Münsterberg, aber auch die Unterstadt in der Ebene zum fast uneinnehmbaren Stützpunkt. Die vielgliedrige Bastion schützt vor Angriffen aus dem Raum Freiburg. Am oberen Bildrand der Rhein und ein Uferstreifen Elsass. Museum für Stadtgeschichte Breisach am Rhein
Die rund 60-jährige Herrschaft Frankreichs nach 1648 ist die Zeit des Sonnenkönigs und seines Festungsbaumeisters Vauban (1633-1707). Ludwig XIV. nennt Breisach zwar «mon Bijou», sein Interesse an der Stadt ist aber rein militärisch. In der Stadt gibt es 13 Kasernen. Für den gewaltigen Ausbau der Festung, der zwei Jahrzehnte dauert, ist kein Aufwand zu gross. Als Unterkunft für die Arbeiter entsteht ausserhalb der Stadtmauern eine Barackensiedlung, die innert weniger Jahre zu einem neuen Stadtteil wird. Als der Sonnenkönig 1681 die Stadt besucht, sind die Festungsarbeiten fast beendet.
Rheintor in Breisach, erbaut um 1675 nach Plänen von Vauban
Rheintor in Breisach, erbaut um 1675 nach Plänen von Vauban; das einzige Bauwerk, das die französische Epoche in Breisach noch dokumentiert. Barock ist Inszenierung, auch wenn es um die triumphale Fassade eines Stadttors geht. Im Giebel des Dachaufbaus markiert eine Krone über dem Lilienwappen weithin die Herrschaft Frankreichs. Für Eintretende sind diese Zeichen in der Halbkreisnische über dem Torbogen wiederholt. Verteilt über die ganze Fassade, symbolisieren Figuren griechischer und römischer Götter und Helden die Macht des Sonnenkönigs. Wikimedia / Ingo Schlösser
In der Franzosenzeit erfährt der Platz auf der Nordseite des Münsters erneut einen Wandel. Das ehemalige Baugelände für das Kastell, das im Mittelalter als Friedhof dient, wird in der Zeit des Sonnenkönigs zum Exerzierplatz. Vom Friedhof zum Kriegshof.
Ehemaliger Friedhof des Breisacher Münsters.
Vorbei die Grabesruhe. Im 17. Jahrhundert exerzieren auf dem ehemaligen Friedhof des Breisacher Münsters französische Soldaten. Die noch schutzbedürftige junge Linde im Vordergrund ist vor dem mächtigen alten Lindenbaum in der Platzmitte kaum erkennbar, wird dennoch zum hoffnungsvollen Zeichen. Kurt Messmer
Ein absoluter Monarch hat nicht absolute Macht. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg muss Ludwig XIV. gegen halb Europa klein beigeben. 1697 wechselt die Herrschaft über Breisach einmal mehr. Wie im Spätmittelalter wird der gesamte Breisgau mit Freiburg wieder österreichisch.

Neuf-Brisach. Construite à partir de rien

Kaum haben sich die französischen Truppen nach der Niederlage auf das linke Rheinufer zurückgezogen, lässt der Sonnenkönig als Ersatz für das verlorene «alte» Breisach eine neue Stadt und Festung aus dem Boden stampfen, nur vier Kilometer entfernt. Baumeister ist erneut Vauban. Zeit seines Lebens hat er 33 Festungen neu anlegen und etwa 300 alte umbauen lassen. Der achteckige «Festungsstern» am Oberrhein wird sein berühmtestes Werk: Neuf-Brisach.
Neuf-Brisach, steingewordene Rationalität
Neuf-Brisach, steingewordene Rationalität. Bauherr: Ludwig XIV., Baumeister: Vauban, Bauzeit: 1699-1703. Wikimedia
Was historisch gewachsene Städte sind, wissen wir. Was der Bau einer Stadt «à partir de rien» ist, demonstriert Vauban um 1700 in Neuf-Brisach. Alles ganz einfach! In der Mitte ein riesiger quadratischer Waffenplatz, darum herum die Gebäude der Macht; der Stadtgrundriss achteckig, optimal für eine dreifache Befestigungsanlage; der städtische Raum schachbrettartig aufgeteilt in 48 Häuserblocks, 34 davon als Wohnraum für 4000 Einwohner; entlang der Stadtmauern Kasernen, eine Manifestation nach aussen und innen; die Strassen schnurgerade, rechtwinklig gekreuzt; von den vier Stadttoren führt je eine Strasse nach Colmar, Strassburg, Basel, Belfort. Fertig ist die Musterstadt.

Machtpo­li­tisch zwischen Hammer und Amboss

Genug der Machtwechsel? Der politisch-militärische Wahn nimmt erst Fahrt auf. 1703, im gleichen Jahr, in dem Neuf-Brisach als Gegenfestung zum verlorenen Alt-Breisach fertig gebaut wird, lässt Ludwig XIV. das alte Breisach bereits zurückerobern. Zu diesem Zweck werden zwei Behelfsbrücken gebaut, denn die einzige feste Brücke zwischen Basel und Strassburg wurde gemäss Friedensvertrag von 1697 abgebrochen. Die zweite französische Besetzung dauert bloss wenige Jahre. Nach einem weiteren Krieg fällt die Festung Breisach 1715 zurück an Österreich. Ist die Welt verrückt geworden? Es kommt noch gröber. Kehrtwende! Bei den ständigen Spannungen mit Frankreich will die österreichische Kaiserin Maria Theresia verhindern, dass dem Gegner ein wertvoller Stützpunkt in die Hände fällt. Über Jahrhunderte hinweg ist die Wehranlage mit unermesslichem Aufwand ausgebaut worden. 1741 wird sie vollständig geschleift. Eine Vorbeugemassnahme. Zurück bleibt eine unbedeutende Landstadt. Prompt wird Breisach von den Franzosen 1744 erneut erobert. Widerstand null. Doch bereits nach anderthalb Jahren ziehen die Besatzer wieder ab. Machtpolitische Irrlichter. Ein halbes Jahrhundert hat Breisach Ruhe. Dann bricht die Französische Revolution aus. Vorerst ist bloss die Rede von «Unruhen». Bald wird daraus ein politischer Sturm, der ganz Europa erfasst. Im ersten Koalitionskrieg verbinden sich Preussen und Österreich gegen Frankreich. Breisach wird 1793 von französischen Truppen erobert, einmal mehr, dazu total zerstört.

Gestern um 6 Uhr Abends fieng man an, Altbrey­sach mit Bomben und glühenden Kugeln zu beschies­sen. In weniger als einer halben Stunde war die ganze Stadt in Flammen. Das Feuer dauerte die ganze Nacht hindurch. Heute sollte über den Rhein eine Schiff­brü­cke geschla­gen werden, um in das Breisgau einzufallen.

Neue Zürcher Zeitung, Nummer 77, 25. September 1793
Damit ist das Drama nicht zu Ende. Noch zweimal wird Breisach, Österreich zugehörig, von französischen Truppen kurzzeitig besetzt. Die Lage beruhigt sich erst, als der Breisgau und Breisach 1806 Teil des neu geschaffenen Grossherzogtums Baden werden, im 19. Jahrhundert eine Hochburg liberaler Vorkämpfer.

Nicht mehr Grenzstadt

1848/49 kämpfen die Liberalen in ganz Europa für Freiheitsrechte – und scheitern überall, mit Ausnahme der Schweiz. Als Folge der verlorenen liberalen Revolution in Baden wird Breisach drei Jahre lang von preussischen Truppen besetzt. Eine Generation später, 1870/71, instrumentalisiert Bismarck den Deutsch-Französischen Krieg für die nationale Einigung Deutschlands. Breisach wird während neun Tagen von den Franzosen erfolglos beschossen. Spuren der Schäden am Münster erinnern noch heute daran. Nach dem Sieg der Deutschen ist Breisach nicht mehr Grenzstadt. Frankreich muss das Elsass und Lothringen an Deutschland abtreten.
Pfeiler auf der Südseite des Breisacher Münsters mit Geschosseinschlägen und Inschrift
«BOMBARDEMENT / DEN 4. NOV. / 1870». Pfeiler auf der Südseite des Breisacher Münsters mit Geschosseinschlägen und Inschrift. Kurt Messmer
Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 zeigt, dass die Kriege damals noch Feldzüge sind. Knapp 50 Jahre später, im Ersten Weltkrieg, ist auch der zweite Angriff der Deutschen auf Frankreich als Feldzug gedacht. Es kommt anders.

Erneut Grenzstadt, entmilitarisiert

«Wenn die Blätter fallen, sind wir wieder bei Muttern!» heisst es im August 1914 in Deutschland. Doch anstelle eines Bewegungskriegs entwickelt sich ein Stellungskrieg. Die «Industrialisierung des Tötens» setzt ein. «Materialschlachten», dabei sind es Menschenschlachten. Der Waffenstillstand verpflichtet die Deutschen, Elsass und Lothringen innerhalb von 15 Tagen zu räumen. Zahlreiche deutsche Truppen überqueren den Rhein bei Breisach. Die Niederlage ist augenfällig, die Perspektive unheilvoll.
Elsass und Lothringen 1918
Im Friedensvertrag von Versailles fallen Elsass und Lothringen 1918 wieder an Frankreich. Der Rhein wird erneut Grenzstrom, Breisach erneut Grenzstadt. Um einen weiteren Angriff Deutschlands zu verhindern, müssen nach 1918 in einer entmilitarisierten Zone von 50 Kilometern Breite am rechten Ufer sämtliche militärischen Anlagen geschleift werden. Das räumliche Ausmass dieses Streifens wird deutlich am Beispiel von Freiburg, das gut 20 Kilometer vom Rhein und von Breisach entfernt ist. Wikipedia / Ziegelbrenner

Breisach als Brennspie­gel Deutschlands

Die Probleme, die damals ganz Deutschland belasten, fordern die Menschen auch in Breisach heraus: Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungsnot, Inflation. Vor den Reichstagswahlen im März 1933 führen die Nationalsozialisten in Breisach einen Fackelzug durch und werden stärkste Partei. «Heil Hitler» und «Gleichschaltung». Der demokratisch gewählte Bürgermeister wird in «Schutzhaft» genommen, ein Nazi ergreift die Macht. Bald darauf setzen Schikanen gegen Juden und Andersdenkende ein. Am 10. November 1938 brennt die Synagoge. Reichskristallnacht. Jüdische Geschäfte werden geplündert, Juden in die Lager von Dachau und Gurs deportiert. 1940 ist Breisach «judenfrei». Militärisch ist die Stadt bis im Sommer 1944 nicht direkt bedroht. Das ändert sich mit dem Vorrücken der alliierten Streitkräfte und dem Rückzug der deutschen Truppen. Aufgebot zum «Volkssturm». Alle verbliebenen Männer zwischen 14 und 60 Jahren haben sich zu stellen. Die Zivilbevölkerung wird mehrmals evakuiert, Breisach rund 130 mal bombardiert.
Breisach Blick vom Südturm des Münsters nach Südosten
Breisach um 1910 Blick vom Münsterplatz in die Unterstadt und zum Kaiserstuhl
Breisach: links, um 1910, Blick vom Münsterplatz in die Unterstadt und zum Kaiserstuhl; rechts, 1946, Blick vom Südturm des Münsters nach Südosten, Unterstadt mit Marktplatz. Im Krieg werden 85 Prozent der Häuser zerstört. Stadtarchiv Breisach am Rhein
Drei Wochen vor Kriegsende am 8. Mai 1945 befinden sich in Breisach noch rund 50 Menschen. Die französischen Panzer haben die Sperre beim Kupfertor durchschossen und sind im Begriff, in die Stadt vorzurücken. Das ist die Stunde des Kaufmanns Albert Ziehler. Mit einer weissen Fahne geht er auf die französischen Panzer zu, erklärt, auf Französisch, dass keine deutschen Truppen mehr in der Stadt sind, die Strassen nicht vermint. Die Franzosen setzen Albert Ziehler samt seiner weissen Fahne vorn auf einen Jeep und fahren mit ihm an der Spitze der Panzerkolonne in die Stadt. Es fällt kein Schuss. Albert Ziehler. Die Denkmäler bekommen immer die andern.

Auf nach Europa!

Kriegsende. Die Stadt zerstört. Es fehlt an allem. Kein Spital, kein Rathaus, keine Schule. Doch Unterricht gibt es, im Wartsaal des Bahnhofs.
Spendenpostkarte für Breisacher Schulen, 1949
Bitte um 20 Pfennig. Spendenpostkarte für Breisacher Schulen, 1949. Museum für Stadtgeschichte Breisach am Rhein
Die «Europäische Bewegung» lässt 1950 in verschiedenen Städten Abstimmungen durchführen. Breisach wird als erste Stadt ausgewählt. Die Abstimmungsfrage lautet:

Sind Sie für die Beseiti­gung der politi­schen und wirtschaft­li­chen Grenzen innerhalb Europas und für den Zusammen­schluss aller europäi­schen Völker zu einem europäi­schen Bundes­staat?
Ja / Nein

Wortlaut der freiwilligen Volksbefragung, veranlasst 1950 von der «Europäischen Bewegung».
Bei einer Stimmbeteiligung von über 87 Prozent antworten in Breisach am 9. Juli 1950 fast 96 Prozent mit Ja. 50 Jahre später, im Jahr 2000, wird dieser Entscheid denkwürdig gefeiert. «Im Zeichen deutsch-französischer Freundschaft und als Brückenschlag im Herzen Europas» verschwistert sich Breisach mit Neuf-Brisach und bekräftigt diese Verbindung mit einem Europa-Denkmal auf dem Münsterplatz.

Quintessenz

Geografie und Geschichte Breisach ist ein Musterbeispiel dafür, wie historische Entwicklungen von geografischen Bedingungen geprägt werden. Der Befund ist allerdings nicht als zwangsläufige Entwicklung zu verstehen. Die Geschichte von Breisach hätte auch anders verlaufen können. Auf ein geografisches Wenn folgt nicht zwingend ein historisches Dann. Die Historie ist widerborstig, gehört nicht zu den mechanischen Künsten, hat keine Logik. Individuum und Kollektiv Der Mensch ist ein individuelles Wesen, doch ohne Gemeinschaft verloren. In der Geschichtsschreibung treten immer wieder Kollektive in den Vordergrund: die Römer, die Germanen, die Deutschen, die Franzosen. Doch dann stellen wir uns vor, wie Albert Ziehler 1945 mit einer weissen Fahne auf die französische Panzerkolonne zugeht. Kollektive beeindrucken, Individuen berühren. Befund und Folgerung Lernen die Menschen aus der Geschichte? Ja, selbstverständlich! Wie hätten sich sonst in Breisach wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg 96 Prozent für einen europäischen Bundesstaat ausgesprochen? Wie sonst wäre die deutsch-französische Freundschaft zwischen Breisach und Neuf-Brisach zu erklären, nach drei Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich innert 70 Jahren, 1870, 1914, 1940? Allerdings: Wer sind die Menschen? Lernen alle Menschen, Gemeinschaften, Regierungen aus der Geschichte, überall und jederzeit? Die Welt sähe anders aus. Die Frage, ob die Geschichte die Lehrmeisterin der Völker sei, kann nie pauschal beantwortet werden, immer nur im Einzelfall. 1951, bloss sechs Jahre nach dem monströsen Zweiten Weltkrieg, gründen die ehemaligen Gegner Belgien, Holland, Luxemburg, Frankreich, Deutschland und Italien eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl: die Montanunion. Sie wird zum Kern der heutigen Europäischen Union auf der Grundlage der Menschenrechte. Ihre bedeutendste Errungenschaft: Frieden.

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